Eine Frau steht mit Wanderrucksack und Treckingstöcken vor Bäumen mit herbstlicher Laubfärbung. Auf dem Rucksack brangt eine Norwegen-Fahne.und
Vier Monate war Nadja Ziegler zu Fuß mit Treckingausrüstung in Norwegen unterwegs. Foto: Kai-Uwe Ruf/Funkemedien

Wolfenbüttelerin wandert 2700 Kilometer zum Nordkap

Von Kai-Uwe Ruf

Wolfenbüttel. Nadja Ziegler war vier Monate zu Fuß mit Zelt und Rucksack in Norwegen unterwegs – und erlebte ein faszinierendes und herausforderndes Abenteuer.

 

Einsam steht das winzige Zelt auf dem schier endlosen Fjell. Weit entfernt, hinter vielen Hügeln geht am Horizont die Sonne auf und taucht die Heide in ein gelblich-rotes Licht. Die Atmosphäre verspricht Romantik und Abenteuer gleichermaßen. Das Foto ist bei Lindesnes entstanden, dem südlichsten Ort in Norwegen. Geschossen hat es Nadja Ziegler. Die Wolfenbüttelerin wanderte von dort allein bis zum Nordkap. 126 Tage war sie bei ihrer Extremwanderung unterwegs, in Sonne, Regen, Wind und Schnee, und legte dabei 2700 Kilometer zurück. „Norwegen der Länge nach“ nennt sich das große Naturerlebnis für robuste Outdoor-Fans.

„Es ist einfach spektakulär“, schwärmt die 50-Jährige, als sie zurückkehrt: „Die Weite, die raue Landschaft, schneebedeckte Berge, Flüsse, Seen. Die Freiheit, die man dabei fühlt, ist unbeschreiblich.“

Aber es ist auch mühsam. Kraft, Energie und Durchhaltevermögen sind gefragt. Als die zierliche Frau in Lindesnes ihr Zelt zusammenpackt und losmarschiert, wiegt ihr Rucksack mehr als 20 Kilo. Wechselkleidung, Regenjacke, Schlafsack, Isomatte, ein kleiner Kocher und Lebensmittel – all das muss mit. Zumindest am Anfang setzt Nadja Ziegler auf eine umfangreiche Ausrüstung. Später sortiert sie aus. Viel leichter wird ihr Gepäck dennoch nicht. „Es waren immer noch 16 Kilo ohne Verpflegung“, erzählt sie.

Ihre Tour hat sie detailliert geplant. Meist sind die Etappen etwa 25 Kilometer lang. Den Tagesablauf kann sie draußen in der Natur ganz frei gestalten. „Es gibt keine Beschränkungen“, schwärmt sie immer noch. Meist sei sie gegen 8 Uhr gestartet und zwischen 16 und 17 Uhr an ihrem Ziel angekommen.

 

Schreckmoment, als das Handy plötzlich nicht mehr da ist

Es gibt aber auch Ausnahmen. Einmal legt sie sogar 47 Kilometer an einem Tag zurück. „ Das war meine längste Etappe“, erzählt sie. Sie sei in den Bergen unterwegs gewesen. Weil sie ein schmerzendes Knie bei einem steilen Abstieg nicht so stark belasten wollte, sei sie einer Straße gefolgt. Dort habe es aber lange Zeit keinen Platz gegeben, auf dem sie ihr Zelt hätte aufschlagen können. Also ging sie immer weiter, bis sie endlich – ziemlich erschöpft – zu einer Wiese kam.

„Wandern in Norwegen ist nicht so wie hier“, erzählt Nadja Ziegler. Oft gebe es auf den weiten Fjells keinen befestigten Weg. Nicht einmal ein Pfad sei erkennbar. Es gebe lediglich ab und an farbige Wegpunkte, die auf Steine gemalt oder an Bäumen befestigt seien. Die Wolfenbüttelerin nutzte Wander-Apps und eine GPS-Ortung auf ihrem Handy, um ihren Weg zu finden.

Das klappte gut. Aber eines Tages verlor sie ihr Handy. Der Schreck war groß, als sie das Gerät weder in ihren Taschen noch in den Fächern ihres Rucksacks fand. „Man glaubt gar nicht, für was alles man so ein Smartphone benutzt“, sagt sie: Telefonieren, GPS-Navigation, Karten, Social-Media-Kontakte. „Sogar die Kreditkarte war weg“, erzählt sie.

Mit traditionellen Landkarten auf Papier und ihrem Kompass habe sie sich weiter orientiert, bis sie in das nächste kleine Städtchen kam. Sie habe sofort ein neues Handy gekauft. Die Betreiberin eines Hostels habe ihr geholfen und ihr ein Notebook geliehen, so dass sie ihre Internet-Zugänge wieder aktivieren konnte.

Die meiste Zeit war die Wolfenbüttelerin allein unterwegs. Manchmal habe sie sechs oder sieben Tage niemanden getroffen. Die Einsamkeit in der Natur sei aber ein positives Erlebnis gewesen. „Ich habe das genossen. Es ist eine unglaubliche Freiheit, die man dabei fühlt. Ich habe das sehr intensiv wahrgenommen“, erzählt sie. Oft habe es nicht einmal Handy-Empfang gegeben.

Trotzdem ist die Freude groß, wenn man jemanden trifft. Es gibt noch andere Wanderer, die den Weg von Süden nach Norden durch Norwegen gehen. Auf Hütten und Campingplätzen kommt sie ins Gespräch mit Gleichgesinnten. „Das ist dann etwas ganz Besonderes“, sagt sie. Manchmal gehen sie dann sogar ein Stück des Wegs gemeinsam. Sie erzählt von einem jugendlichen Norweger, den sie trifft. Er sei 14 Tage zum Angeln auf den Fjells unterwegs gewesen. „Die Menschen dort haben ein ganz anderes Verhältnis zum Leben draußen in der Natur“, erzählt sie.

 

Vom Unwetter überrascht, aber zum Glück nicht allein

Ein anderes Mal ist sie mehrere Tage mit einer Frau unterwegs. Gemeinsam bewältigen sie die wohl schwierigste Situation, die Nadja Ziegler auf ihrer viermonatigen Tour meistern muss. „Es war das einzige Mal, dass ich wirklich Angst hatte“, erzählt sie. Die beiden waren in den Bergen unterwegs, auf dem Weg zu einer Hütte. Eine App hatte ein schweres Unwetter angekündigt. Bis um 16 Uhr wollten sie die Hütte erreichen, aber das Unwetter kam früher. „Der Sturm und der Regen waren so stark, dass wir uns hinknien mussten“, berichtet die Wolfenbüttelerin. Drei Kilometer vor der Hütte hätten sie den Weg und die Orientierung zeitweise ganz verloren. „Ich war froh, dass ich da nicht allein war.“

Ende August bekommt sie Besuch von ihrem Mann. Zwei Wochen sind die beiden gemeinsam unterwegs. Sonst hält sie Verbindung über soziale Netzwerke, schickt Fotos und Textnachrichten und telefoniert ab und an, sofern es ein Handynetz gibt.

Der Weg stellt sie oft vor Herausforderungen. Sie quert Steinwüsten und Sumpf-Gebiete und watet durch Furten, um Flüsse zu queren, weil es oft keine Brücken gibt. Einmal steht ihr das Wasser dabei fast bis zur Hüfte. Die Strömung droht, sie mitzureißen. „Es hatte zuvor stark geregnet. Das Wasser war einfach höher als erwartet“, erklärt sie die Situation, die auch für sie überraschend kam.

Im Süden kommt sie alle paar Tage durch Dörfer oder eine kleine Stadt. Weiter im Norden gibt es viel weniger Siedlungen und damit auch kaum Gelegenheiten, sich mit Proviant zu versorgen. Aber Nadja Ziegler hat sich vor Beginn ihrer Tour an einige Campingplätze und mehrere Hütten Verpflegungspakete geschickt. Es gibt Trekking-Nahrung, getrocknetes Gemüse, Couscous, Müsli, aber auch Chips, Schokolade und Bier. „Ich habe mich immer gleich über die Schoki hergemacht“, berichtet sie. Das Hungergefühl sei ein häufiger Begleiter während der Wanderung gewesen. Manchmal habe sie auf Hütten in den Schränken nach Keksen oder anderen Leckereien gesucht, die Wanderer vor ihr zurückgelassen hatten.

 

Rückkehr in den Alltag nach Monaten in der Wildnis ist nicht einfach

Das Nordkap sollte das begeisternde Ziel der langen Reise sein – aber es wurde eine große Enttäuschung. „Als ich unterwegs war, hatte ich die Fantasie, dass ich eine Straße entlang gehe und ich sehe das Wahrzeichen, den großen Globus, der in der Sonne blitzt“, erzählt Nadja Ziegler. Aber als sie ankam, war es so nebelig, dass sie fast an der Stahlskulptur vorbeigelaufen wäre, ohne sie überhaupt zu sehen. Sie ging über einen großen Parkplatz und kam dann in die Nordkap-Halle, ein Erlebniscenter mit Geschichtsdarstellungen und Souvenir-Verkauf. Trotzdem seien ihr die Tränen gekommen, weil sie nach all den Anstrengungen das Ziel erreicht hatte. „Im Nachhinein war das Nordkap gar nicht das Entscheidende. Ich habe so viel erlebt, dass es darauf gar nicht mehr ankam“, sagt sie rückblickend.

Mit Schiff und Flugzeug geht es binnen weniger Tage zurück nach Deutschland. Aber der Weg zurück in die Alltagsroutinen und den Job dauert länger. „Es ist schwierig, sich hier wieder an die Termine und all die Hektik, den Lärm und den Autoverkehr zu gewöhnen“, sagt sie: „Das kann einen anfangs ganz schön überfordern.“ 

 

Quelle : Braunschweiger Zeitung, Online-Ausgabe, 13. 11. 2023